Warum Prinzipien für echte Agilität unverzichtbar sind

Prinzipien stiften Identität – für den Einzelnen und die Organisation

Ob wir es wollen oder nicht: Unser Handeln prägt unsere Identität. Wer täglich liest, wird zum Leser. Wer regelmäßig Sport treibt, wird zum Sportler. So einfach – und so konsequent – funktioniert Identitätsbildung. Wenn jedoch das Gesagte und das Gelebte auseinanderfallen, entsteht ein innerer und meist auch äußerer Konflikt.

In der Organisationsentwicklung spricht man in diesem Zusammenhang von der organisationalen Identität. Fischer und Wiesner (2016) schlagen vor, den digitalen Wandel nicht nur technisch oder funktional zu betrachten, sondern aus verhaltensanalytischer Perspektive zu verstehen. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, wie sich durch Veränderungsprozesse die Identität von Menschen und Organisationen wandelt.

Identität entsteht im Wechselspiel:

  • Die persönliche Identität beeinflusst die Organisation.
  • Die Organisation prägt die persönliche Identität.

In meiner Heimat Bosnien sagt man: „S kim si, takav si.“„Mit wem du bist, so bist du.“
Dieser Gedanke spiegelt sich in der Erkenntnis wider, dass wir der Durchschnitt der Menschen werden, mit denen wir die meiste Zeit verbringen. Organisationen und ihre Menschen entwickeln sich gemeinsam weiter.

Eine Organisation, die Sinn und Orientierung bietet, stärkt das Engagement ihrer Mitarbeitenden. Gleichzeitig prägen engagierte Mitarbeitende die Kultur der Organisation. Diese gegenseitige Beeinflussung zeigt: Identität ist nichts Statisches, sondern wird durch gelebte Werte und Prinzipien ständig neu verhandelt.

Prinzipien geben Orientierung in dynamischen Zeiten

Prinzipien setzen klare Leitplanken für Denken, Entscheiden und Handeln. Sie geben Orientierung in komplexen und dynamischen Situationen, ohne die Flexibilität zu nehmen. Anders als strikte Regeln, die auf bestimmte Situationen zugeschnitten sind, bieten Prinzipien einen stabilen Rahmen für eigenverantwortliches Handeln.

Gerade in VUCA-Zeiten – also in Phasen, die von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität geprägt sind – sind Prinzipien unverzichtbar. Sie helfen Teams, schnell ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln und Entscheidungen zu treffen, auch wenn der Kontext unklar oder die Lage unübersichtlich ist.

Regeln engen ein – Prinzipien öffnen den Raum für adaptives Handeln.
Deshalb sind Prinzipien die stillen Stars der Agilität. Sie sorgen dafür, dass Mitarbeitende nicht auf ständige Anweisungen warten müssen, sondern selbstständig im Sinne der Unternehmensziele agieren können.

Zukunft hat Herkunft: Kultur prägt Verhalten

Die Zukunft einer Organisation entsteht nicht im luftleeren Raum. Sie ist immer auch Ergebnis ihrer Geschichte. Jedes Unternehmen trägt seine Erfahrungen, Erfolge und Misserfolge mit sich – bewusst oder unbewusst. Diese Erlebnisse leben weiter in Geschichten, Erzählungen und Mustern.

Wer verstehen will, wie eine Organisation „tickt“, sollte weniger auf offizielle Leitbilder schauen, sondern auf die gelebten Praktiken und Kommunikationsmuster. Denn nicht, was auf dem Papier steht, sondern was im Alltag tatsächlich gelebt wird, prägt die Kultur.

Führungskräfte als Kulturträger

Führungskräfte spielen dabei eine zentrale Rolle. Ihr Verhalten setzt Standards. Mitarbeiter beobachten genau, was tatsächlich vorgelebt wird – nicht, was proklamiert wird.
Ein respektvolles Verhalten strahlt aus und beeinflusst das Klima positiv. Umgekehrt sendet egoistisches oder destruktives Verhalten fatale Signale und untergräbt das Vertrauen.

Die Neurowissenschaft liefert dafür eine Erklärung: Die sogenannten Spiegelneuronen sorgen dafür, dass Menschen das Verhalten anderer intuitiv aufnehmen und nachahmen. Respektvolles Verhalten aktiviert im Gehirn der Beobachtenden ähnliche Muster. So wird Kultur nicht nur kommuniziert, sondern neurologisch verankert.

Charakter zeigt sich im Kleinen – und wirkt im Großen

Oft zeigen sich charakterliche Muster bereits in scheinbar unbedeutenden Situationen. Wer im Kleinen egoistisch handelt, wird es auch im Großen tun – wenn es wirklich darauf ankommt.

Ich erinnere mich an einen früheren Kollegen, dessen Verhalten mich bei einem kleinen Projekt stutzig machte. Ich sprach meinen damaligen Chef darauf an, doch dieser winkte ab – es sei doch „nur eine Kleinigkeit“. Wenig später zeigte der Kollege das gleiche Muster in einem deutlich größeren Projekt, diesmal mit gravierenden Folgen für meinen Chef.

Diese Erfahrung lehrt: Frühe Anzeichen ernst nehmen.
Wer jetzt die Augen verschließt, zahlt später einen hohen Preis.

Prinzipientreue als Schlüssel für nachhaltige Agilität

Gerade in agilen Organisationen ist Vertrauen das wichtigste Kapital. Es lässt sich nur durch konsequentes Vorleben von Prinzipien aufbauen – und kann durch opportunistisches Handeln blitzschnell zerstört werden.

Eine Führungskraft, die einmal eine pragmatische Ausnahme macht, um kurzfristig zu gewinnen, riskiert langfristig das Vertrauen und die Loyalität des Teams. Dabei lebt Agilität von psychologischer Sicherheit, die nur dann entsteht, wenn alle darauf vertrauen können, dass Prinzipien nicht verhandelbar sind – auch wenn es unbequem wird.

Prinzipien – altmodisch oder unverzichtbar?

Manche mögen Prinzipien belächeln oder als altmodisch abtun – ähnlich wie eine rostige Kette, die nicht mehr ins moderne Bild passt. Gerade in Zeiten, in denen pragmatische „Quick Wins“ verlockend erscheinen, werden Prinzipien oft als hinderlich empfunden. Doch wer hier nachgibt, verspielt langfristig die Grundlage für Vertrauen und Verlässlichkeit.

Echte Prinzipien zeigen ihre wahre Stärke nicht dann, wenn alles glatt läuft, sondern wenn es verführerisch einfach wäre, sie zu ignorieren. Organisationen, die sich auch in schwierigen Situationen treu bleiben, bauen eine Kultur auf, die dauerhaft trägt. Was auf den ersten Blick veraltet wirkt, erweist sich langfristig als das stabile Rückgrat für nachhaltigen Erfolg.

Fazit: Prinzipien sind kein Luxus – sie sind Überlebensnotwendig

Agilität ohne Prinzipien ist wie ein Schiff ohne Kompass. Prinzipien geben Orientierung, schaffen Vertrauen und machen Organisationen handlungsfähig in dynamischen Zeiten. Sie sind der unsichtbare Rahmen, der echtes agiles Arbeiten erst möglich macht.

Wer Agilität wirklich leben will, muss bereit sein, Prinzipien nicht nur zu predigen, sondern sie täglich vorzuleben – im Großen wie im Kleinen.

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